Michaelisches Yoga - eine Rezension von Scott Elliot Hicks

Der Begründer der Waldorfpädagogik und der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, Rudolf Steiner (1861–1925), gab auch der Architektur, der bildenden Kunst, der Medizin und dem sozioökonomischen Leben neue Wege. Seine gesammelten Werke, die seiner spirituellen Sicht des Menschen, der Anthroposophie gewidmet sind, sind gefüllt mit einer Vielzahl konkreter geisteswissenschaftlicher Übungen und Meditationen. Er hinterließ aber auch kleine Andeutungen und allgemeine Hinweise auf neue Formen der geisteswissenschaftlichen Praxis, die er zu Lebzeiten nicht vollendete. Eine dieser Andeutungen über eine zukünftige, für den modernen Menschen geeignete Art der spirituellen Praxis betraf ein »Michaelisches Yoga«. Er erwähnte dies kurz in einigen Vortragszyklen von 1919/20 (GA 194 und 322). Diese neue rhythmische Praxis würde sich nicht auf den physischen Atem konzentrieren, wie die Pranayama-Übungen des älteren Yoga, sondern vielmehr auf die Spiritualisierung der Denktätigkeit und der Sinneswahrnehmung, die hin- und herwechseln, eines nach dem anderen.

Erstens kann die Denktätigkeit in ein Betrachten von Wesenhaftem jenseits von Vorstellungen umgewandelt werden, und zweitens können Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Hören und Riechen »verdampft« und mit dem Körper verwoben werden. In einem zyklischen Puls können wir das Innere unserer Begriffe mit der Welt der Ideen vereinen, die wir im gewollten Denken betrachten (dies ist wie ein »Ausatmen«), und dann ziehen wir die lebendigen Kräfte hinter Farbe, Klang, Geruch, Berührung und Wärme in unseren erweiterten Lebens- und Lichtleib ein (dies ist wie ein »Einatmen«). Diese Praxis, die durch das Eindringen in die unbewussten Elemente der Erkenntnis und der Wahrnehmung erreicht wird und auch die Kräfte der Moral erhöht, indem wir unser Ego und unsere subjektiven Projektionen, Bedürfnisse und Wünsche mit strenger und objektiver Selbsterkenntnis untersuchen, lässt eine neue Art von spirituellem Selbst entstehen. Dies scheint ein schwieriger Prozess zu sein!

In dem ausgezeichneten neuen Buch
Michaelisches Yoga entdecken wir jedoch dankenswerterweise, dass Dr. Yeshayahu Ben-Aharon Steiners Hinweise auf mehreren Hundert Seiten zu einer vollständigen Praxis entwickelt hat. Ben-Aharon ist ein führender geisteswissenschaftlicher Forscher, der zehn Bücher veröffentlicht hat, beginnend mit Das spirituelle Ereignis des 20. Jahrhunderts in den 90er-Jahren und zuletzt Menschendämmerung und Auferstehung der Menschheit. Michaelisches Yoga sammelt nicht nur Steiners Zitate über den Michaelischen Yoga, sondern Ben-Aharon entwickelt eine neue kognitive yogische Praxis, die eine echte Ergänzung zum Reichtum der Anthroposophie darstellt. Fast jeder Satz dieses Buches ist eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie man diese neue Kunst, Meditation und kognitive, spirituelle Praxis ausführt. Es ist ein solider und tiefgehender Einführungskurs darüber, wie man Denken und Wahrnehmung in eine neue Art von imaginativer oder hellsichtiger Erkenntnis verwandeln kann. Er basiert allein auf der Anthroposophie und mischt keine anderen Strömungen oder Ansätze ein.

Nachdem er einen Überblick über Steiners Hinweise zu diesem Thema gegeben hat, zeigt uns Ben-Aharon, dass der erste Schritt darin besteht, unsere Sinneseindrücke auf der einen Seite klar von unseren mentalen Bildern, Erinnerungen, Vorstellungen und Reflexionen auf der anderen Seite zu trennen. Mit anderen Worten: Wir lernen, einen Apfel zu betrachten und die Farbe und die Empfindung von unseren Gedanken über den Apfel zu trennen, und zwar im Fluss des Bewusstseins von Augenblick zu Augenblick. Dies steht in direktem Zusammenhang mit der wirklichen geisteswissenschaftlichen Praxis der Substanz von Steiners
Philosophie der Freiheit, bei der das Erkennen des Unterschieds zwischen Wahrnehmungen und Begriffen grundlegend ist. Ben-Aharon vergleicht diesen ersten Schritt mit der Aufspaltung von Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff durch Elektrolyse.

Nachdem wir gelernt haben, wie wir die Vorstellung auf der Grundlage des normalen Bewusstseins »zergliedern« können, betont Ben-Aharon, dass keine dieser Übungen das Gefühl der Selbstidentität beeinträchtigen sollte. Im Gegenteil, die Praxis des kognitiven Michaelischen Yoga sollte nur auf dem starken Gefühl des Selbstbewusstseins und dem modernen Gefühl, ein individuelles Ego oder Selbst zu sein, aufbauen. Die Begrenztheit und Isoliertheit des modernen Ich kann sich mit den ausgleichenden Kräften des neuen ätherischen Christus-Impulses und dessen Gaben zu einer freien und kreativen spirituellen Individualität entwickeln. Wir lesen diese erstaunliche Aussage:

»Selbst in den höheren geistigen Welten, unter den höchsten Wesen der geistigen Hierarchien, findet man kein Selbstbewusstsein und keine Freiheit, wie sie der Mensch auf der Erde entwickeln kann. Sie können dort auch nicht erschaffen werden. Folglich gibt es in den göttlichen Welten keine individuell entwickelte Fähigkeit zur Liebe, die nur aus wahrer Freiheit geboren werden kann. … Das ist es, was die Geisteswissenschaft meint, wenn sie von »dem Christus-Impuls« spricht: im irdischen Ego das wahre Selbst zu finden, und wenn wir dies in dem Maße erreichen, je mehr wir wirklich unseren Egoismus transformieren ...« (S. 63f.)


Dann beginnen die ersten Schritte der Wahrnehmungsumwandlung mit Kapiteln über die »Ätherisation« oder die spirituelle Entwicklung des Sehens und Riechens. Ich habe noch nie ein anderes Buch gelesen, das etwas mit diesen reichen Praktiken gemein hat. Dieses Material ist absolut originell und ich würde sagen, in der anthroposophischen Literatur beispiellos. In der Praxis des »Farbenatmens« geht Ben-Aharon weit über den von Goethe entwickelten moralischen Sinn für die reinen Qualitäten der Farben hinaus. Er verwendet das Beispiel, das Rot von einer Rose zu trennen und die reine Intensität zu erleben, sich in Hingabe erschütternder moralischer Selbsterkenntnis und Demut dem geistigen Werdeprozess des Wesens des Rot hinzugeben. Er schreibt:

»Nur indem wir diese selbstlose Triebkraft erzeugen und verwirklichen und alles, was wir haben, dem werdenden Rot-Prozess ... überlassen, können wir Rot vollständig unser eigenes gewöhnliches Selbst ersetzen lassen. Welt-Rot wird zum Selbst und führt einen ... Gerade in dem Moment, in dem wir ganz Rot geworden sind, verschwindet die frühere Erfahrung der Qualität von Rot, die wir vom physischen Objekt abgesondert haben. Von diesem Moment an haben wir nicht nur die Fähigkeit verloren, die äußere Farbe vorzustellen, sondern haben auch ihre qualitative Seelenerfahrung verloren. ... diese farblose Farbe wird reine Intensität, die durch uns fühlt, will und denkt.« (S. 85)

Und das ist nur eine Zwischenstufe!


Während der Entwicklung der jahrzehntelangen Michaelischen kognitiven Yoga-Praxis entdeckte Ben-Aharon, dass es eine große Blockade oder ein Tor gibt, das die reinsten ätherischen Kräfte im unteren Teil des Körpers verschließt. Der Schlüssel zum Öffnen dieser Blockade liegt in der Vergeistigung des Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinns. Er konzentriert sich in erster Linie auf den Geruchssinn, um einen Überblick darüber zu geben, wie dies mit den anderen mittleren Sinnen erreicht wird. Dazu muss man einen dritten Strom des Geruchssinns hinter der Nasenhöhle finden und ihm bis in den Ätherleib und die Empfindungsseele folgen. Durch diesen Prozess entdecken wir, dass der Geruchssinn tatsächlich unbewusst einen großen Teil unseres Gefühls bildet, verkörpert zu sein und in einer festen physischen Hülle zu leben. Er schreibt:

»So ist der Versuch, diesen sich selbstliebenden ... warmen Körper von Gerüchen, Geschmäckern und ... inneren Berührungen und Empfindungen loszulassen, wie eine freiwillige Entscheidung zu sterben; sich von einem geliebten und bequemen Ort des sicheren und verborgenen, privaten, irdischen Wohnens zu trennen. Erst wenn wir bereit sind, uns dieser Angst zu stellen und sie loszulassen, werden die Duftaura und -substanz wirklich frei sein, uns zu verlassen. ... Als ein Akt der Dankbarkeit für diese selbstlose Befreiung kann [die Duftaura und -substanz] uns gnädig erlauben, an ihrer Rückkehr zu ihrer kosmischen Quelle teilzunehmen und von nun an ihrem wahren Wesen und Werden als einer echten objektiven Weltenkraft teilzuhaben...« (S. 136)


Der fortgeschrittenste Teil des Buches beschreibt dann die Befreiung und Individualisierung des gesamten Ätherleibes und die Erschaffung einer neuen ätherischen Individualität. Er zeigt uns dann, wie wir in der neuen irdisch-menschlichen Sonnensphäre, die jetzt in den geistigen Fundamenten unserer Erde wächst, einen neuen Lehr- oder Bildungsgarten betreten können. Das letzte Kapitel gipfelt in einer Beschreibung, wie dieser Ätherisationsprozess zu einer intimen Begegnung mit der Wiederkunft Christi in der ätherischen Welt führt. Ich habe festgestellt, dass das Praktizieren dieser neuen Kunst des Michaelischen Yoga selbst in den ersten Schritten ein schwieriges, aber gesundes spirituelles Unterfangen ist. Ich kann dieses Buch nur wärmstens empfehlen.

Scott Elliot Hicks, Autor von
The Resurrection of Thinking (Die Auferstehung des Denkens, 2018), und Earthly, Transcendental, & Spiritual Logic (Irdische, transzendentale und spirituelle Logik, 2019).

Michaelisches Yoga
eine Rezension von Scott Elliot Hicks

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